Dienstag, 22. Dezember 2015

RUSSLAND - Moskau: Knoten im Verkehr

Mittwoch, 16.Dezember 2015. Gerade gestern abends habe ich in der festlich dekorierten Halle von St.Marx das 15-jährige erfolgreiche Bestehen der Österreichisch-Russischen Freundschaftsgesellschaft gefeiert. Zusammen mit ein paar hundert anderen (prominent: Innenministerin Mikl-Leitner und Sozialminister Hundstorfer), die an den traditionell guten Beziehungen zwischen Russland und Österreich interessiert sind und die Wirtschaftssanktionen (gerade wieder um ein halbes Jahr verlängert) als nicht zielführend und vor allem auch nicht der Wirtschaft Österreichs nützend  ansehen.  Und ich begann etwas verfrüht Weihnachten zu feiern, als ich eine weitere Prominente  kennenlernte: Snegurotschka, das hübsche Schneemädchen (oder Schneeflöckchen), von der ich bisher geglaubt habe, sie sei eine altrussische Märchenfigur. Aber sie war ganz offensichtlich real, wir verstanden uns auf Anhieb. Auch ihr weißbärtiger Papa, der im russischen Volksmund „Väterchen Frost“ genannt wird, war da. Irgendwie als uncool-frostiger Aufpasser.
(Danke, Fredi!)
Einen noch nicht ganz weißen Bart hat auch Gregorij Makazaria (die in Moskau geborene Stimme der Russian Roll-Band "Russkaja"), der mich von der Bühne mit einer rauhen Version  von „Those were the days“ und „Moskauer Nächte“ auf meine morgige Reise einstimmte.


Noch in freundschaftlicher Schneeflöckenstimmung fliege ich also heute wieder einmal nach Moskau. Werde nicht enttäuscht, der lokale Frostvater und seine Flockerltochter haben ganze Arbeit geleistet. Der Flughafen Sheremetjevo ist mit frischem Schnee bedeckt. Es ist unwarm.

Neuschnee in Sheremetjevo
Freund Vladimir holt mich ab. Die Autofahrt ins Zentrum im üblichen, heute durch Schneefall noch verstärkten Stau dauert fast zwei Stunden (darüber habe ich schon einmal in einem Blogbeitrag geschrieben  >>>). Aber so kann ich später wenigstens die üppige, fast amerikanisch-kitschige Vielfalt der Weihnachtsbeleuchtung auf den Plätzen und Boulevards im Stadtzentrum ausreichend bewundern. Ich wohne dieses Mal im luxuriösen Hotel  „President“, das zu  Sowjetzeiten das Gästehaus der Regierung war. Auch heute prominente Gäste beherbergt und von den oberen Stockwerken einen prominenten Blick auf den Moskva-Fluss, das Zar Peter-Denkmal, die riesige Erlöser-Kathedrale und sogar noch ein bisschen auf den Glockenturm des Kreml ermöglicht.



Ein leichter Nachteil: auch die Eingangskontrolle ist ziemlich sowjetisch. Korrekt-unfreundlich. Allgemeiner Vorteil: der Rubel ist so schwach, dass die Preise für ein paar Biere, typischen Hering und Schwarzbrot sowie den unvermeidlichen Begrüßungswodka (oder waren es mehrere?) hier in der Aurora-Bar des 5*-Hotels nicht höher sind als im Nordsee-Lokal bei mir am Rochus-Markt (also Wodka haben die noch nicht im Angebot).

Freitag. Moskau ist wie Bangkok. Also nicht bei Dezemberwetter oder Anzahl buddhistischer Klöster. Aber beim Verkehr. Also beim Straßenverkehr. Wobei Verkehr ja in den meisten Fällen bedeutet, dass sich etwas bewegt. Aber gerade am Freitag, vor allem nachmittags, ist das sonst übliche Verkehrschaos im Zentrum der mit elf Millionen größten Stadt Europas (mehr als die halbe Fläche des Burgenlandes) und den Ausfahrtsstraßen noch ein paar Nuancen schlimmer: eine Stehpartie. Da kriegt auch die für Moskau geltende Bezeichnung „Verkehrsknoten“ eine zusätzliche Bedeutung.

Überraschend, aber eigentlich verständlich, dass der seit Jahrzehnten an Dienstwagen und Chauffeur gewöhnte Vladimir nun auch immer mehr die Metro als effektives und zeitberechenbares Verkehrsmittel nützt. Auch ich habe beide Tage auf Taxi und Vladimirs Limousine verzichtet und alle meine Termine mit der Metro erledigt. Allerdings: angeschrieben sind die Eingänge, teils sehr langen Übergänge und Stationen noch immer nur in cyrillisch. Ich schaffe das, aber für den Durchschnittsbesucher aus dem Westen wird so eine Metrofahrt zur spannenden Rätselralley.

Um 20.30 Uhr ist mein Rückflug nach Wien. Überall steht mittlerweile der Straßenverkehr. Ich beschließe, jedes Zeitrisiko zu vermeiden und mit der speziellen Schnellbahnverbindung, dem "Aeroexpress", zum Flughafen zu fahren. Von meiner Metrohaltestelle „Oktiabrskaya“ sind es nur drei Stationen mit der alten Ringlinie zum Weißrussischen Bahnhof (an dem übrigens die Züge aus Wien ankommen). Der kurze Weg zum Aeroexpress-Terminal ist deutlich und rot beschildert. Nach kurzem Security-Check bin ich im Schalterraum.

Meine ersten Eindrücke: der Terminal ist modern, alles ist leicht zu überblicken. Im Wagon: sauber,  Klimaanlage, ausreichend Gepäckablage. Ist unserem Wiener City Airport Train sicher ebenbürtig.
Jede Reihe hat fünf Sitze (2-Gang-3). Die Bestuhlung ist ok, für eher schmal-normal gebaute Kunden konzipiert. Eigentlich doch etwas zu eng, sodass mein in dick wattiertem Anorak verpackter linker Sitznachbar fast nicht anders kann, als mich nach rechts von meinem Gangsitz zu drängen. Fünf Minuten vor der Abfahrt sind alle Sitze besetzt, jetzt geht es um die Blockierung eines halbwegs akzeptablen Stehplatzes. Inklusive Abstellplatz für Taschen, Koffer und – tatsächlich – ein Cello.


Pünktlich geht es los. Der Stehplatzbesitzer im Gang neben mir  ist mein Freund und drückt mich mit Hilfe seiner russischen Samsonite-Version zurück nach links. Klar, dass sich der Anorakträger auf einmal beengt fühlt. Ich fühle mich wie zu Hause in der U3 als ich bemerke, dass 70% der Fahrgäste an ihrem Handy hantieren. Towarisch Anorak macht plötzlich Pause bei seinem wichtigen Telefonat, räkelt sich entspannt. Da mein Kofferfreund, der Koffer, gerade schwächelt, bin ich wieder gefährdet, wichtige Sektoren meines Sitzplatzes abzugeben. Vorfreude auf die breiten, unabdrängbaren Sitze der Aeroflot kommt auf. Und auch, dass es in deren Flieger (noch) nicht möglich ist, zu telefonieren. Olga betritt unseren Waggon. Mit einem Trolley, auf dem Getränke und Sandwiches sowie, typisch russisch, auch im Winter Schleckeis angeboten wird. Ein unerwartetes Service. Anorak startet ein Nickerchen, scheint aber schlecht  zu träumen. Zuckt mit den Armen. Zweimal. Wie kann man trotz starker Daunenpolsterung so spitze Ellenbogen haben? Ich wäre jetzt soweit, einen aeroexpressstressreduzierenden Wodka zu probieren. Aber Olga hat mich verlassen, ist schon mehrere Wagen weit weg.

Es gibt auch einen Monitor im Waggon. Zur Zerstreuung und für die unvermeidbare Werbung. Ein Filmchen bereitet uns auch auf die hochtechnische Scankontrolle unseres Tickets nach Ankunft vor. Auf einmal wird die Rasierwasserausdünstung von Anorak von Kaffeegeruch überdeckt. Ein weiterer Trolley und Tatjana tauchen auf.

Sie mischt und schenkt hochkonzentriert Jacobs Monarch-Kaffee in kleine Pappbecher. Ist an dem, was nun folgt, das berühmte Jacobs-Aroma schuld? Anorak beginnt plötzlich alpzuträumen,  Freund Koffer neben mir zu husten. Hat er eine Monarchen-Allergie, ist er ein Bolschewik? Noch acht Minuten. Ähnlich wie im Flugzeug nach der Landung springen jetzt schon die ersten Fahrgäste auf (es fehlt die Bahnversion der reschen Flugbegleiterin, die alle Idioten wieder in ihre Sessel weist). Anorak ist einer der hektischten, somit kann ich es mir die verbleibenden vier Minuten im Sitz richtig bequem machen. Schon bald werden in der Schweiz  gebaute Doppelstock-Waggons zum Einsatz kommen, dann werden es Anorak, Koffer und ich und zigtausend andere richtig komfortabel haben.

Wir kommen pünktlich in Sheremetjevo an. Sofort tauchen die angekündigten Kontrollschleusen am Bahnsteig auf.

Niemand hat die Hinweise gelesen, fast niemand hat das Ticket zum Scan bereit. Stau, Gedränge. Ungeduld. Doch die Technik ist perfekt, alle gelangen wir schließlich in die große, helle Terminalhalle, in der sich russische Gastronomie, also Starbucks und Burger King, sowie Minimarkt, Buchhandlung und zahlreiche Souvenirgeschäfte breit machen. Im 3.Stock des Terminalgebäudes gibt es sogar ein Wiener Cafe (mit für k&k Beamte passenden Öffnungszeiten von 09.00 bis 17.00 Uhr; die Melange muss ich mir für das nächste Mal aufheben). Nach fast zu vernachlässigender Wartezeit und Gedränge bei einer weiteren Sicherheitskontrolle bin ich im Terminal E. Bereit zum Check in.

Aeroexpress-Verbindungen gibt es inzwischen mit allen drei Moskauer Flughäfen. In der Anfangsphase, im Juni 2009,  habe ich einmal den Aeroexpress zwischen dem Flughafen Domodedovo und dem im Zentrum liegenden Bahnhof Paveletsky ausprobiert. Ich blättere in meinen damaligen Aufzeichnungen und finde einen ebenso aufregenden Erlebnisbericht:

Der Aeroexpress ist die Moskauer CAT-Version, die moskovitische City-Airport-Verbindung ohne Zwischenstopp zwischen Stadtzentrum und Flughafen Domodedovo, dem zur Zeit (Anmerkung: 2009) modernsten Flughafen Moskaus. Den u.a. auch AUA, Flyniki, Air Berlin und Lufthansa anfliegen. Klingt gut, sehr modern, weltstädtisch. Passt zu der immer stärker in den Blickpunkt drängenden Metropole Russlands.

Ich habe Franz, einen Ruefa-Kollegen, zum Flughafen begleitet und auf den PKW-Rücktransfer verzichtet. Ich will den neuen Aeroexpress testen. Nikolai, unser Fahrer, ist happy: kein Zeitdruck mehr mit den Staus und den Baustellen am Rückweg, er kann früher bei seiner Ludmilla sein. Gleich beim Ausgang der Inlandsflugankommenden ist schon der Fahrkartenschalter. Den aus dem Ausland angekommenen, thrombosegefährdeten Passagieren mutet man offenbar einen kleinen Spaziergang, ein bisschen Kofferschleppen und Drängen durch die Schlangen der Eincheckenden zu. Immerhin, vom Kartenschalter zum Bahnsteig sind es nur 30 Meter.

Der Aeroexpress ist irgendwie ein potemkinsches Dorf. Die Tickets werden zwar modern gedruckt, ja richtig geprintet, und sind mit einem state-of-the-art-Strichcode versehen. Aber das Papier ist so dünn, dass es sich bei Entgegennahme in der Hand des schweißhändigen, kofferhenkelverschwielten Reisenden sofort einrollt, zumindest in Falten legt. Was den Strichcode sehr freut, wenn er bei der gleich dahinter liegenden, maschinellen Eingangskontrolle seinem Besitzer Durchlass und Eintritt ermöglichen soll. Der Strich ist bereits zum Linienknäuel mutiert, das auch der unsensibelste, rustikale Laserschlitz nicht aufnehmen und schon gar nicht erkennen kann. Das Verhältnis ist circa 1:5. Einem Ticketinhaber erscheint das grüne, Einlass verheißende Licht, ihm öffnet sich die gefährlich aussehende Eingangssperre des Automaten. Die anderen statistischen Fünf erstarren vor rotem Licht  – njet, kein Durchgang zum Aeroexpress. Mehrmalige Reinfudel-Versuche mit dem bereits vernudelten Hightech-Ticket bringen keinen Erfolg. Rot ist´s und die Tore ins Zentrum Moskaus bleiben geschlossen. Das merken auch die anderen, vorerst brav in der Reihe Wartenden. Und reagieren nach einigen Schocksekunden. Drängen von hinten, von links und rechts, persönlich oder mit ihren Koffern. Sie wollen einfach zeigen, dass sie die Technik beherrschen, dass sie elektronisch die besseren Russen, die Abkömmlinge der Kosmonauten sind, dass sie zur neuen, modernen Klasse der Eingangsautomatenstürmer gehören. Sie sind irgendwie erfolgreich. Jedoch unverändert im Verhältnis 1:5. Auch ich bin im Negativbereich, quasi im Rotlicht-Fünftel. Bringe zwar das Ticket in den Schlitz, aber sofort leuchtet das aggressive, unnachgiebige Ungrün auf. Ich, wir, alle Zwei bis Fünf-Vielfachen haben unseren eigenen Roten Platz. Vor dem Automaten. Kein Eintritt.

Von links werde ich plötzlich von einer etwas massiv dekolletierten Dame in den Koffer eines rechts vordrängenden, schweißtriefenden Mannes geschoben. Die Aeroexpress-Approbanten schwanken zwischen Unverständnis und Ungeduld. Die Menschentraube vor den sechs Portalen ist schnell auf rund siebzig Personen angewachsen, sie moussiert deutlich in Richtung Sturm. Ich sehe mich schon von dieser Meute und den Meutekoffern erdrückt. Sehne mich nach Nikolai und seinem großräumigen, nicht durch codiertes Ticket, sondern mit einfachem Autoschlüssel zu öffnenden Renault Logan. Doch es naht die Erlösung. In Form einer aufgelösten, falschblonden, richtigvollbusigen, uniformierten Melange aus Bahnhofsvorsteher, Hausdrachen, Kappelträger, Frustbuchtel ( © W.Ambros). Sie schaut sich noch umständlich autoritär die Ticketreste der ersten drei Fasterdrückten an, bevor sie verständnis- und mitleidsvoll mit einer Mastercard nacheinander die Sperren der Automaten löst. Den Rest lässt sie ohne Kontrolle durch. Zusammen mit den aus Antalya, Hurghada, Nha Trang und Süd-Pattaya zurückgekommenen russischen Touristen und einigen Unrussen, stürme ich den Zug. Zumindest wollen wir ihn entern.

Der Krampf, der Kampf geht weiter. Um die wenigen noch freien Plätze. Nicht jeder ist erfolgreich, ich habe doppeltes Glück. Ich ergattere einen Platz am Gang, noch dazu visavis einer hübschen, jüngeren Russin. Die ganz fest glaubt, dass sie jünger und hübsch ist. Auch ihr barbierosa Strohhut deutet auf Realitätsverlust. Wahrscheinlich war sie vor Antritt ihres Strandurlaubes auch wirklich jünger, jugendlicher. Zumindest hautmäßig. Nach erfolgreichem Sonnenbräunen (wie viele Wochen oder Monate? Was heißt eigentlich longstay auf russisch?) erinnern mich ihre Arme, ihre Wangen, ihr üppig sein sollender Ausschnitt leicht an das Rehhäutel, das ich zum Fensterputzen meines 2cv´s verwende. Natürlich vor dem Fensterputzen - ich verliere trotz dieser leichten Unannehmlichkeiten sicher nicht meinen angeborenen Wiener Charme. Und muss gendergerecht feststellen: es gibt hier auch etliche Rehhäutel-Männer. Die Strafe für meine kecken Gedanken folgt auf dem Fuß. Eigentlich in die Hüfte. Durch den Koffer eines unaufmerksamen, russischen Businessman, der lautstark per Handy mitteilt, dass er keinen Sitzplatz bekommen hat. Aber das gewisse Kofferrempel-Feeling kenne und spüre ich ja noch vom Eingang her. Habe noch ein paar unbeschädigte Rippen. Vor allem links.

Der Aeroexpress ist irgendwie ein Symbol der Widersprüchlichkeit der russischen Seele. Er ist nicht „Aero“, die Luft ist heiß, drückend, erdrückend schwül. Der Sauerstoff hat sich schon fast verflüchtigt, manche Passagiere schnappen nach Luft. Und er ist auch nicht „express“. Schon nach vier Minuten langsamer Anfahrt bleibt er stehen. Der Gegenzug muss passieren. Ein Teil der Strecke ist offensichtlich (noch; Anmerkung:2009) einspurig. Der Aeroexpress sollte so sein, wie man ihn auf den von der Decke hängenden Flachbildmonitoren sieht: windschlüpfrig, rot, mit tollem Design. Mit futuristischen, bequemen, blauen Sitzen. Airconditioned. Schnell. Tatsächlich besteht er aus alten Schnellbahnwaggons der russischen Staatsbahnen, die sicher noch Chrustschov befördert haben. Sie sind irgendwie grüngrau, das konnte ich bei der leichten Schmutzschicht aber nicht exakt erkennen. Und die Sitze (wie im Airbus in der Konfiguration 3-Gang-3) sind irgendwie auch graudüster, gut durchgesessen. Die fast gereinigten Fenster haben schmale Lüftungsschlitze, die uns Fahrgästen den gesundheitlichen Vorteil bieten, dass es nicht zuviel zieht oder Krankheitskeime eindringen können...

Nun, diese Zeit ist vorbei. Gerade vor ein paar Tagen wurde der supermoderne Paveletsky Rail Terminal eröffnet. Der Aeroexpress ist heute eine tolle, zumeist komfortable, jedenfalls zeitsparende und umweltfreundliche Alternative zum Flughafentransfer mit PKW und Bus.

Link zum Aeroexpress

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